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Ruth Schweikert. Foto: JULL Junges Literaturlabor.

Alit trauert um Ruth Schweikert, Mitgründerin des Vereins Alit und langjähriges Vorstandsmitglied.

In Erinnerung an Ruth und an ihre Arbeit hier der Text, den Werner Rohner bei der Beerdigung von Ruth am 14.6.2023 in Zürich vorgetragen hat:

 

Mein Name ist Werner Rohner, und ich habe die unmögliche Ehre Ruths Schweikerts Lebenslauf vorzutragen. Unmöglich, weil Ruth zwar viel zu kurz gelebt hat, aber auch sehr intensiv, sehr viel. Und weil es – auch wenn sie Zahlen und insbesondere Daten geliebt hat, nicht passt, ausgerechnet ihr Leben mit Eckdaten zusammenzufassen. Zum Glück stimmen nicht alle.

Während in den meisten Medien stand, dass sie 1965 geboren wurde, war es der 15. Juli 1964, ein Mittwoch, an dem sie in Lörrach auf die Welt kam. Ich habe sie einmal gefragt, ob ich versuchen solle, es wenigstens bei Wikipedia zu ändern. Sie hat kurz überlegt und dann gesagt: Komm, wir lassen es – als ob sie auch da, das Leben durch Erfindung erweitern wollte.

Von Lörrach ist sie dann bald darauf mit ihren Eltern in den Aargau gezogen, wo ihre Brüder Urs und Martin zur Welt kamen. Zwei Halbgeschwister hatte sie auch.

Als Kind hat sie Cello gespielt, viel gelesen schon damals. Später aber auch Feste gefeiert, im Elternhaus, bevor sie ein Jahr vor der Matur dort aus- und mit Magdalena zusammenzog. In der gleichen Zeit hat sie Patrick kennengelernt. Diese beiden Freundschaften haben Ruth ihr Leben lang begleitet, bedingungslos, schonungslos manchmal vielleicht auch, großzügig und loyal.

Über Patrick – den sie immer ihren Lebensfreund genannt hat – und bei dem sie vor knapp drei Jahren selbst noch viele Tage und Nächte, bis zu seinem Tod, am Bett saß, hat sie ein Gedicht geschrieben, das sie für eine Ausstellung hier im Friedhof selbst eingelesen hat.

Ich zitiere:

Bääägä, seisch Du. Ich bäägää, gäll.

Und er sagt: Und bäägisch witer. Und ich bäägä mit, chli lisliger.

Nach der Matur hat Ruth sich für ein Biologiestudium eingeschrieben, Thomas kennengelernt, den Vater von ihren ersten beiden Söhnen. 1985 kam Raphael zur Welt, 1989 David.

Und, ich greife vor, 1997 dann Ruben und Elia, zehn Jahre später Orell.

Und wenn ich schon dabei bin, Ruth ist auch schon länger Großmutter von Etienne, Mael, Lyo und Emilia.

Nur eine Aufzählung hier, dabei war natürlich jedes Verhältnis anders und groß – und immer erkannte man an Ruths Stimme gleich, wenn eines ihrer Kinder am Telefon war. Es waren auch die einzigen Anrufe, die sie in Sitzungen ganz selbstverständlich entgegennahm.

Und es war Ruth immer wichtig, dass das zusammengeht, Arbeit, die auch Kunst sein konnte, und Familie. Dass sich das nicht konkurrenziert, sondern bereichert.

Nicht lange nach der Geburt von Raphael hat sie die Schauspielausbildung in Ulm begonnen. Hat sich und Raphael und bald auch David mit diversen Jobs durchgebracht, bis sie Anfang der Neunziger in der Küche von Magdalena saß und sagte: Du, ich hab ein Buch geschrieben.

Erdnüsse, Totschlagen.

Das Buch – es war ein großer Erfolg, eine große Wucht – hat ihr nicht nur ermöglicht, sich ganz aufs Schreiben zu konzentrieren. Über dieses Buch und ein Interview dazu lernte sie 1994 auch Eric Bergkraut kennen, ihren Ehemann.

Alain Claude Sulzer beschrieb das in einer Mail an ihn, die ich vorlesen darf, sehr schön: Ich werde nie vergessen, wie Du mir in Deiner Basler Wohnung zum ersten Mal von Ruth erzählt hast, über die Brücke ihres ersten Buchs, von dem Du mir so enthusiastisch erzähltest, dass ich mich unwillkürlich fragte, ob hinter dem begeisterten Leser nicht schon ein Liebender steckte, der Du warst und geblieben bist.

Und Eric war ja nicht der Einzige, der sich in Ruths Literatur verliebt hat. Aber er war derjenige, in den sich auch Ruth verliebt hat, und drum ist sie bald schon nach Zürich gezogen, erst nach Wollishofen, dann nach Wipkingen, und schließlich, mit Eric, in die gemeinsame Wohnung an der Brandschenke.

Welcome home, so hiess das erste von vielen Theaterstücken, das 1998 im Theater Neumarkt uraufgeführt wurde. Es folgten weitere Bücher, in denen manche von uns sie wohl in den nächsten Wochen, aber hoffentlich auch Jahren und Jahrzehnten, suchen werden. Und sie sofort in ihrem Ton finden und uns darin verlieren. Und die so melodisch geschrieben sind, aber auch so dicht, dass man besser sehr langsam und vorsichtig umblättert.

Sie heißen: Augen zu, Ohio, Wie wir älter werden, und Tage wie Hunde. Und Total eclipse of the heart. Das letzte ist natürlich kein Buch von Ruth, sondern ein Song von Bonnie Tyler. Aber ich erinnere mich, wie Ruth ihn bei einer Karaokenacht in der Winkelwiese, nicht bääägät, sondern geradezu geschmettert hat – wie da eben so viel mehr Leben war, als diese Aufzählungen nun hergeben.

Und da waren nicht nur die Bücher und Stücke, da waren auch unzählige Beiträge für Anthologien, Zeitungen, Kunstkataloge und Zeitschriften. Und dann ihre regelmäßige Kolumne in der NZZ am Sonntag, die sie zugesagt hatte im vollen Bewusstsein, dass sie dadurch ihr anderes Schreiben arg vernachlässigen würde. Aber zum ersten Mal vielleicht mit dem Gefühl, nicht nur was zu sagen zu haben, sondern auch ganz bewusst viele Menschen, noch mehr Menschen, erreichen zu wollen.

Und dieses Bedürfnis etwas zu verändern, sich zu engagieren, über das Schreiben hinaus zu handeln, machte sie ebenfalls aus. So gründete sie unter anderem Alit und Netz mit, trat bei den Nationalratswahlen 2015 für die Liste Kunst + Politik an, welche sich für Menschenrechte, Bildung und Kultur stark machte. Schrieb regelmäßig bei Literatur für das, was passiert, und arbeitete auch bei der Nationalen Strategie gegen Krebsmit. War Präsidentin von Suisse Culture, in diversen Jurys und Findungskommissionen hat sie sich eingebracht (und, so bin ich mir sicher, auch mal einfach ihre großen Augen sehr groß gerollt). Auch die Einsetzung der ersten Stolpersteine in Zürich hat sie mitinitiiert.

Und nicht zuletzt war das Schweizerische Literaturinstitut in Biel ihr Wirkungsort. Ungefähr die gefühlte Hälfte aller Schweizer Debüts der letzten zehn Jahre hat Ruth betreut – aber viel wichtiger, mit den Schreibenden zusammen einen Weg für ihre Geschichten und das Unsagbare gesucht.

Überhaupt hat Ruth immer auch zusammengearbeitet. Mit Simon Froehling zum Beispiel, Katrin Bechtler, 2019 hat sie mit Eric und ihren drei jüngsten Söhnen den Film „Wir Eltern“ gemacht. Und seitdem drei weitere Kollaborationen begonnen.

War überhaupt und immer mehr auf eine Art den Menschen zugewandt, die ihr – so glaube ich – nicht immer nur leichtgefallen war. Hat den Menschen – trotz auch schwieriger bis Scheisserfahrungen – so viel Vertrauen entgegengebracht.

Und mir scheint, sie hatte die Begabung, allen, die mit ihr Zeit verbringen durften, das Gefühl zu geben, wichtig zu sein. Auserwählt fast. Was umso erstaunlicher ist, gerade, weil es so viele waren und sie oft nicht viel Zeit hatte.

Aber wenn Ruth da war, war sie ganz da.

Hingebungsvoll, großzügig, chaotisch und intensiv. Schillernd, präzise, weil immer suchend, und eigenwillig.

Und jetzt ist sie nicht mehr da.

Und so müssen wir, was wir ihr nicht mehr sagen können, einander erzählen, die wir heute hier sind – und es tut mir leid, dass viele von Euch jetzt nicht vorgekommen sind, obwohl ihr bei Ruth sehr wohl und viel mehr als vorgekommen seid.

Und es braucht Euch alle, um die ehrenvolle Unmöglichkeit Ruth und ihr Leben zu erzählen, zu schaffen. Um Ruth und ihre Sprache, ihr Denken, aber auch ihr Wirken, zu erinnern und weiterzutragen. Und das nicht nur, weil niemand, und schon gar niemand allein, Ruth ersetzen kann. Sondern auch, weil es Reibung und Vielstimmigkeit braucht, die ihr Leben und ihre Texte doch immer ausgemacht haben.

Und deshalb bin ich, bei aller Traurigkeit, froh, jetzt noch vielen von Euch zuhören zu dürfen, wenn Ihr von Ruth und von Euch erzählt.


In Erinnerung an Ruth und an ihre Arbeit zudem ein Text von Beat Mazenauer:

Leidenschaft und Empathie

Der Tod von Ruth Schweikert ist ein immenser Verlust für die Schweizer Literatur. Sie hat wie kaum eine Autorin ihrer Generation das zeitgenössische literarische Schaffen geprägt. Dies nicht allein mit ihren literarischen Büchern. Ruth Schweikert war eine nimmermüde Förderin von literarischen Talenten. Ihr Wirken am Bieler Literaturinstitut hat unzählige von ihnen ermutigt und im Schreiben befördert. Schliesslich nicht zu vergessen hat sich Ruth Schweikert immer wieder auch in politische Diskussionen eingemischt.

Besonders in ihrem letzten Buch „Tage wie Hunde“ (2019) hat sie ihrer Haltung, ihrem Engagement und ihrer Empathie Ausdruck verliehen. In diesem Protokoll einer Krankheit beschrieb Schweikert, wie sie von einer bösen Krebsdiagnose überrumpelt wurde. Um Worte ringend beobachtete sie sich dabei, wie sie selbst wieder Haltung findet.

In dem Text steckt eine wilde Unruhe und zugleich ein leidenschaftlicher Widerstandsgeist. „Tag für Tag ertappte ich mich in flagranti bei meinem Überlebenswunsch.“ Dabei liess sie sich nicht erdrücken, sondern weitete den Blick, um verstorbener Freunde zu gedenken.

Meisterin der Anfänge

Vor kurzem ist die Krankheit bei ihr wieder ausgebrochen. Nun ist sie es, derer man gedenkt. In ihren Werken hat sie sich als eine Meisterin der Anfänge erwiesen.

Schon ihr Debüt, der Erzählband „Erdnüsse. Totschlagen“, geriet 1994 zum fulminanten Auftakt. Hinter dem boshaft klingenden Titel verbergen sich sieben Geschichten, die von Frauen und Müttern erzählen, die gefangen sind zwischen dem Wunsch nach Glück und den täglichen Beziehungskatastrophen. Sprachlich überzeugt der Band mit einem harschen, ungehobelten Ton, der schon damals Schweikert als Repräsentantin eines neuen weiblichen Schreibens auswies.

Vier Jahre später trieb sie das Thema im Roman „Augen zu“ weiter. Gleich der erste Satz sticht in die Wunde: „Als Kind wünschte ich mir an manchen Tagen schon frühmorgens dringend irgend etwas, das nicht Milch hiesse und Butter und das täglich Brot gib uns heute.“ In diesem brillanten Anfang steckt bereits das ganze Gespinst von Hoffnung und Scheitern, in dem sich das Paar Aleks und Raoul verheddert.

Epizentrum ist die Familie

Ruth Schweikert wurde 1965 im badischen Lörrach geboren. Sie wuchs in Aarau auf und zog später nach Zürich, wo sie mit dem Filmemacher Eric Bergkraut und ihren fünf Kindern lebte. Dieses Familienleben forderte seinen Tribut. Zwischen ihren Büchern lagen lange Pausen. Zugleich aber erdeten die familiären Erfahrungen ihr Schreiben.

2005 folgte der Roman „Ohio“, abermals mit einem bemerkenswerten Anfang. Mit ein paar Sätzen führt die Autorin ins Zentrum der verstörten Beziehung von Merete und Andreas, die sich über Rückblenden in ein weites Familienmuster verzweigt. Die Erzählung konzentriert sich dabei auf wenige Stunden, die Andreas noch zu leben bleiben.

In ihrem Werk hat Schweikert von Menschen erzählt, die sich im Räderwerk des Alltags zu behaupten suchen. Im Zentrum steht dabei immer wieder die Familie als Keimzelle der Gesellschaft wie als Quelle von Glück und Verhängnis. Ihr schonungslos genauer Blick auf das Private lässt indes nie den weiten zeitgeschichtlichen Horizont ausser Acht, in dem die individuellen Erfahrungen aufgehoben sind. Genau dies charakterisiert ihre Prosa und ihre insgesamt drei Theaterstücke.

Die Autorin hat die weite Welt aus ihrem Familienkosmos heraus in den Blick genommen. Peter Bichsel erkannte in seiner Laudatio an Ruth Schweikert zum Zürcher Kunstpreis 2016 darin ein ausgesprochen couragiertes Programm: „erzählen und aufschreiben sind zwei sehr verschiedene Sachen, das Aufschreiben bedrohlich, das Erzählen besänftigend“.

Im selben Jahr hat Schweikert auch den Solothurner Literaturpreis erhalten, für ihr Werk und insbesondere für den Generationenroman „Wie wir älter werden“ (2015). Sie unterzieht darin zwei Familien einer strengen Selbstbefragung. Mit dem Alter der Eltern konfrontiert, entwirren die Töchter Iris und Kathrin ein altes familiäres Lügengewebe. Zupackend und schlicht erzählt der Roman von Liebe und Verrat. Niemand kommt dabei ungeschoren davon. Doch die Autorin hält unverbrüchlich zu jeder ihrer Figuren.

Politisches Engagement

Alles in allem blieb Schweikerts Werk schmal. Doch mit Blick auf ihr Schaffen gilt es einen erweiterten Werkbegriff anzuwenden. Nicht nur, dass sie neben Prosa auch Kolumnen und Texte zum Zeitgeschehen verfasst hat. Sie hat sich in einem umfassenden Sinn engagiert: politisch und literarisch. Zusammen mit anderen Kunstschaffenden kandidierte sie beispielsweise 2015 auf einer „Kunst und Politik“-Liste für den Nationalrat.

Dabei ist sie jederzeit nahbar geblieben, vor allem in ihrer Rolle als Förderin. Vorab am Bieler Literaturinstitut hat sie sich um den literarischen Nachwuchs gekümmert – so sehr, dass hin und wieder in den Texten der jungen Autorinnen und Autoren ein Satz oder eine Formulierung auftaucht, worin die Lehrerin Schweikert erkennbar ist.

In den letzten Jahren hat sie sich jener Schreibenden mit Migrationshintergrund angenommen, die in einer „fünften“ Landessprache schreiben und deshalb hierzulande kaum Zugang zum Literaturbetrieb erhalten. Wenn eben erst noch in Zürich ein „Lesefest“ zur vielsprachigen Schweiz stattgefunden hat, so ist auch darin das Wirken von Ruth Schweikert sichtbar. Sie setzte sich ein, oft auch um den Preis, weniger Zeit für die eigenen Texte zu haben.

In ihrem Engagement fühlte sie sich Max Frisch verbunden, der, wie sie in einem verspäteten Brief an diesen schrieb, in seinen Texten über den Tod hinaus anwesend geblieben sei und der seine Sorgen um die Schweiz „zu Lebzeiten mit der Öffentlichkeit als Partner geteilt“ habe. Darin folgte sie ihm. Am vergangenen Sonntag ist sie in ihrem Zürcher Zuhause an ihrer Krebserkrankung gestorben.

Literatur Littérature

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Unser virtuelles Journal enthält Texte, die – oft noch unfertig – zu Diskussionen anregen möchten und Reaktionen hervorrufen. Literarische Texte sind ebenso erwünscht wie das Fabulieren ins Offene. Das Journal will weiter dokumentieren, wie Texte, Geschichten entstehen, welche Gedanken einer Idee folgen, wie Autorinnen und Autoren ein einzelnes Thema fokussieren und von verschiedenen Seiten beleuchten und wie Autorinnen und Autoren schreibend aufeinander Bezug nehmen.

2022/03/10,

Verluste im Krieg

 

In Charkiv

vorige Woche

sind vor russischen Bomben

nicht nur Bewohner der Stadt gefallen.

 

Unter Getöteten

waren auch

Bürger von Russland

Dostojewski und Tolstoj…

 

In Kyiw

haben russische Raketen

eigene russische Bürger

Bulgakov und Brodski

tödlich getroffen…

 

Luftangriffe auf die Ukraine

haben das Bolschoj Theater

und die Russische Akademie der Künste

verpulvert…

 

Tschajkowski und Rachmaninow,

Prokofjew und Stravinski

sind davon

für immer und ewig

taub geworden…

 

Halyna Petrosanyak.

8.03.2022.

 

 

 

2022/03/01,

 

Halyna Petrosanyak: Aus dem Zyklus „Liebesreigen“

 12.
 Rechne nicht
 mit meiner Zerbrechlichkeit,
 denn es ist
 die Brüchigkeit
 eines Steinbruches.
 Rechne nicht
 mit meiner Verletzlichkeit,
 denn es ist die Verletzlichkeit
 des Ackers.
 Verlasse dich nicht
 auf die Waffe,
 denn mich verwunden
 kann nur der,
 den ich liebe.
 Aus dem eben erschienenen Band:  „Exophonien“
30/01/2021, Jens Nielsen

Jens Nielsen «Schwund»
Das «Zäsur»-Buch aus der Reihe essais agités (https://essaisagites.ch/Book/368/Die_Z_sur) ist vertont worden. Jens Nielsen gehört mit seinem Text «Schwund» zu den Gewinnern der SRF-Ausschreibung «Zehn kurze Geschichten zur langen Pandemie». Aus 168 Einsendungen wurden zehn ausgewählt und als Hörspiel produziert. Auf der Website von SRF ist «Schwund» nachzuhören (https://bit.ly/3bCVWCe).

«Wo ist eigentlich

Wo ist hier alles

Diese Strasse

Diese Stadt

Ist das die richtige wo

Fragte ich mich

Und stutzte

Wie erwacht aus einem

Aber nicht im Bett

Ich stand am Strassenrand

In eleganter Kleidung

Frack

Und tadellose Schuhe

Ich hatte einen Stadtplan in der Hand

Er war ordentlich gefaltet

Aber alt und abgenutzt

Als wie von jahrelangem»

17. Oktober 2020, Michael Stauffer

Schwankende Gegenwart
von Michael Stauffer

Michael Stauffer hat seinen Beitrag für das «Zäsur»-Buch (https://essaisagites.ch/Book/368/Die_Z_sur) in Sound rückübersetzt und zusammen mit Wolfgang Zwiauer, Adrien Oggier und Kevin Chesham performt. Hier auf Soundcloud ist er nachzuhören (https://soundcloud.com/life-at-the-zoo/stauffer-oggier-zwiauer-chesham-5-8-20).

«Man kann nicht voraussagen, wie sich eine Gesellschaft entwickeln und verändern wird? Man kann nicht dabei zuschauen und dann sagen, aha, deshalb? Es ist immer Zufall, was aus einer Gesellschaft wird, und Glück? Eine Gesellschaft überwindet ihren mentalen Jetlag nie. Die Gesellschaft weiss, ob es reicht, wenn es ihr gut geht mit dem, was sie tut?»

22. September 2020,

«Mag sein, dass wir uns nach der aktuellen Pandemie – beziehungsweise nach ihrer ersten Welle – besser verstehen werden. Was dieses Verstehen uns bringt, ob es uns irgendwo hinbringt, ist noch offen. Bleibt also womöglich nur das reine, folgenlose Begreifen. Es bleibt unser argwöhnischer Blick auf die neu in Gang gesetzten Menschenmassen an Seepromenaden, in Baumärkten und Bahnhöfen, auf Autobahnen. Es bleiben die unaufhaltsame Kraft der Unvernunft, der Wille zum Vergessen, die bedingungslose Hingabe an das Heute. Ja, das Heute gewinnt immer. Das Heute ist der Ort, zu dem alles hinführt – das Begreifen genauso wie die Taubheit, das Erinnern genauso wie das Vergessen. Einverstanden sein muss man damit nicht. Es zur Kenntnis zu nehmen, ist dennoch nicht das Schlechteste.»

Auszug aus: Jens Steiner: Das Heute gewinnt, in: Die Zäsur — Beobachtungen und Bedenken in Zeiten der Pandemie

*Von Jens Steiner ist eben erst ein neuer Roman erschienen: «Ameisen unterm Brennglas», Arche Verlag.

29. August 2020, Parwana Amiri

Auszug aus: Parwana Amiri: Meine Worte brechen eure Grenzen. Briefe an die Welt aus Moria

Vierzehnter Brief

Was würdest du sagen, wenn du statt der Person, die du jetzt bist, eine der über 20’000 obdachlosen Geflüchteten wärst, die im Lager Moria leben, das sich im Winter in eine Hölle und im Sommer in die Wüste Sahara verwandelt?

Würdest du nicht deine ganze Fassungslosigkeit in die Welt hinausschreien wollen?

Was würdest du sagen, wenn du dich nach tagelangen Märschen durch Berge, Wälder, Täler und Wüsten, ohne Nahrung und Wasser, in der Kälte, ohne Decken und warme Kleider, aber voller Hoffnung, Europa zu erreichen, plötzlich hinter den Gefängnismauern von Moria wiederfändest, mit deinen zerbrochenen Träumen von Schlaf an einem warmen und sicheren Ort?

Würdest du nicht deine ganze Fassungslosigkeit in die Welt hinausschreien wollen?

Was würdest du sagen, wenn du nachts frierend und ängstlich aufwachen, das Schreien deines kranken Kindes hören und deine Hilflosigkeit spüren würdest, weil du ihm nicht helfen kannst? Weil du nur um zwei Euro betteln könntest, um eine Busfahrkarte für die Fahrt ins Krankenhaus zu kaufen, damit sich nach endlosen Stunden des Wartens jemand um dein sterbendes Baby kümmert?

Würdest du nicht deine ganze Fassungslosigkeit in die Welt hinausschreien wollen?

(…)

Und was würdest du sagen, wenn du zuschauen müsstest, wie Mädchen ihre Körper verkaufen? Würdest du nicht auf diese Welt spucken wollen? Was würdest du sagen, wenn du länger als ein Jahr in diesem Gefängnis Moria ausharren müsstest, wobei dein einziges Verbrechen dein Bedürfnis nach Sicherheit und Schutz und dein Wunsch nach diesem kostbaren blauen Stempel* wäre, der dich als Geflüchtete anerkennen würde und deinen Traum wahr werden liesse?

Würdest du nicht deine ganze Fassungslosigkeit in die Welt hinausschreien wollen?

Und was würdest du sagen, wenn so einfache Dinge wie eine Heizung und Strom (den du brauchst, um dein Handy aufzuladen, damit du fünf Minuten mit deiner Familie sprechen kannst, die wissen will, ob du noch lebst oder in den Wellen den Tod gefunden hast), eine warme Decke, ein Zuhause, ein Mundvoll Nahrung, eine Tasse Tee zu unerreichbaren Wünschen würden, zu Dingen, die nur in den kühnsten Träumen zu haben wären?

Würdest du nicht deine ganze Fassungslosigkeit in die Welt hinausschreien wollen?

Und was würdest du sagen, wenn du eine Handvoll Erde von Morias Grund aufheben und spüren würdest, wie sie schwächer als Asche wird, weil jede Nacht mehr als 20’000 obdachlose Menschen ihre ganze Fassungslosigkeit in die Welt hinausschreien? Nur ein Herz kann ein anderes Herz trösten; die einzige Wärmequelle für ein Herz ist ein anderes Herz.

Was wirst du also tun? Was wirst du sagen?

Schreist du deine ganze Fassungslosigkeit in die Welt hinaus?

6. August 2020, Reto Sorg und Michel Mettler

Vorwort zur Anthologie „Dunkelkammern ‑ Geschichten vom Erscheinen und Verschwinden“
Berlin: Suhrkamp 2020

Stoffe sind das, woraus Literatur entsteht. Gestaltlos zuerst, ein bloßes Wollen, wachsen sie, werden dringlich und setzen das Schreiben in Gang. Wer Gedrucktes vor sich hat, sieht nur die Enden dieses Wollens. Dem Enden voraus geht meist ein langwieriges Suchen und Kreisen, ein Drehen und Wenden, ermüdend, anstachelnd, aufbauend, ernüchternd, begeisternd.
Die Formlosigkeit des Begriffs Stoff kommt nicht von ungefähr, denn Literatur entsteht außerhalb von Büchern in wenig linearen Entwicklungen, in den Ankleideräumen, Maulwurfsbauten, Dunkelkammern, Turm- und Nebenzimmern der Imagination. Text: Hervorgegangen aus erwogenen und verworfenen Möglichkeiten, Varianten, Fassungen. Was davon lesbar wird, verbirgt Gespräche, Träume, Lektüren, Reisen und Sprünge, Risse und Schwindel – das lange Warten und schnelle Zünden, Revision und Zurückkommen. Das Buch und sein Anschein des Fertigen blenden diese Bewegungen aus. Wer einen Roman liest oder ein Gedicht, sieht nicht den Tumult, aus dem sie entstanden sind.
Aktualitätsbezogenes Lesen will zur Kenntnis nehmen, zur Sache kommen, fragt nach Bestimmtem und Bestimmbarem. Diesen Wunsch kann Literatur nur enttäuschen. Sie behandelt keine Themen, sie wälzt Stoffe. Diese erscheinen vorbewusst, näher am Amalgam, dem Schaum, der Brühe. Noch keine Instanz hat sie aufbereitet für den auf eiliges Verständnis drängenden Blick. »Jedes Buch, das
gedruckt wurde, ist doch für den Dichter ein Grab oder etwa nicht?«, bemerkt Robert Walser, als er zunehmend verstreut in Zeitungen und Zeitschriften publiziert. Auch die Stoffe von Friedrich Dürrenmatt unterlaufen die Konvention herkömmlicher Entstehungsgeschichten: »Enden ist stets willkürlich, ein Aus-der-Hand-Geben, ein Verlieren schließlich, ein Vergessen, resignierend wie jedes Vergessen. Das noch nicht Geschriebene und das Unvollendete
dagegen gehören mir.«
Da ebenso viele Begriffe vom Stoff existieren, wie es Schreibende gibt, versammelt der vorliegende Band eine bunte Vielfalt an Konzeptionen, Visionen und Chronologien des Entstehens. Siebzehn Originalbeiträge von Autorinnen und Autoren aus der Schweiz zeigen unterschiedliche
Arten, wie aus Stoffen Werke werden, Wege, die zwischen Ungeschriebenem und Geschriebenem zurückgelegt werden. Das Interesse an den Tischgottheiten, Privatsalzen und
Herdgeistern, die der Entwicklung literarischer Werke Pate stehen, entdeckt eine Dialektik von Verschwinden und Erscheinen, Erleben und Erzählen – und auch den Umstand, dass fasziniert, was schwer fassbar bleibt. So handeln die hier versammelten Texte von Obsessionen, Bildern und Phänomenen, die nicht zu greifen sind, von denen es aber kein Loskommen gibt, bis sie Form angenommen haben. Aus solcher Unruhe geht die Vielheit an Tonlagen und Schreibweisen dieses Bandes hervor, der neue und bewährte literarische Stimmen durcheinander klingen lässt.
Das Interesse an der Stofflichkeit von Literatur, an den Quellen und Reizbarkeiten, aus denen sie entspringt, steht quer zu den ökonomischen und medialen Realitäten des Literaturbetriebs – und verbindet doch alle involvierten Akteure. Von Literatur handeln, heißt, ihre Verfasstheit, ihre Hintergründe und Bedingungen reflektieren. Dazu lädt diese Sammlung ein, für einmal nicht mittels Essays oder Gesprächen, sondern in Form von Erzählungen.
Michel Mettler und Reto Sorg

13. Juli 2020, Elisabeth Wandeler-Deck

Margret Kreidl, Wien, schenkte mir eines aus ihrer Serie von Akrosticha, die immer über das Wort «Gedicht» gebaut sind. Auf dem pdf dann der handschriftliche Hinweis «Hier hätte noch ein Schulterakrostichon Platz» – wir hatten einander von unserer je wehen Schulter berichtet. Ich versuchte also ein Schulterakrostichon für Margret Kreidl, gefolgt von einem eigenen Gedichtakrostichon.

02./06./07./08.05.2019; 07.07.2020

 

silbe senf sammle häutchen zaus. samt kein.
catering sämtlich jemanden schlitzohrig rau
hummle ein. etwas jemandem. sie. abgekartet.
umsonst umgrade fragezeichen. etwas es saus.
lausch. wimpere wimmern im fleisch zu. viel
turmaus. je jemander. sieh. sst. schrapp nelk au weh
er oder was bist du gradsaus. haus. ausser.
rrrrrrr. serifenwehen schon besser so. frass milben.

gestimmte quasi gern einzig
egal
da dort drum mit
innigster empfindung
casting noch heute der schönste
husch
take gelungen takt tal die träger betasten

 

Gottlieben, 2. Mai 2019, Annette Hug

Trobairitz – eine Heldin?

Der Titel des Projekts war schnell klar: «Trobadora» steht im Titel des Romans, um den es geht. Weil die Figuren selbst viel über Literatur nachdenken, nennen sie das Buch, in dem sie vorkommen, einen «operativen Montageroman». Ich war der Meinung, dass er viel enthält, was irgendwie weitergehen könnte. Deshalb heisst das Projekt «trobadora.montage».

Geschenk einer Leserin: Taschenbuchausgabe im Luchterhand-Verlag mit eingelegtem Zeitungsartikel.

Auf dem Weg zu einer Lesung in Gottlieben waren Johanna Lier und ich mit dem fahrbaren Requisitenkasten und Stehpult unterwegs. Ein kleines Mädchen las die Beschriftung und fragte: «Was ist eine Trobadora?» Johanna erzählte von Frauen, die im Mittelalter Lieder vorsangen. Ich glaube, sie sagte auch, dass diese Frauen Männer besangen, die sie besonders schön fanden. Auf der Heimfahrt, kurz vor Mitternacht, wollten dann mehrere Männer wissen, was eine Trobadora sei. Sie fragten auf Englisch, Spanisch oder Deutsch. Auch das Publikum in Gottlieben war gesprächig. Wir diskutierten zum Beispiel über den Epos und die Frage, ob Heldinnen und Helden, die ihre Gesellschaft verbessern wollen, in der Literatur überhaupt noch denkbar sind.

Johanna Lier, auf dem Weg an die Lesung im Literaturhaus Gottlieben, am 2. Mai 2019.

Drei Frauen hatten ihre Morgner-Ausgaben zur Lesung mitgebracht. Da war eine Erstausgabe im Aufbau-Verlag, 1974, und zwei Ausgaben aus dem Luchterhand-Verlag. Ich verstand nicht recht, weshalb mir eine der Frauen ihr Exemplar unbedingt schenken wollte. War sie überzeugt, dass sie das Buch nie mehr anschauen würde, wollte es aber irgendwo aufgehoben wissen? Jedenfalls nahm ich das Buch dankend an und fand darin einen Zeitungsartikel: «Weibliche Troubadoure». Es ist die Besprechung einer Ausstellung aus dem Jahr 1983 im Landesmuseum Hannover. Der Artikel enthielt Hinweise, die ich verfolgen wollte, und so wurde mir deutlich, wie viel seit dem ersten Erscheinen von Irmtraud Morgners Roman geforscht worden ist. Zum Beispiel haben Forscherinnen der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg die Webseite «Spielfrauen des Mittelalters» erarbeitet. Da findet sich auch die historische Gestalt Beatriz de Dia, die hinter der Titelfigur von Morgners «Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura» steht. Zu meiner Überraschung lernte ich auch, dass der Beruf der Minnesängerin auf Deutsch eigentlich Trobairitz heisst.

Mai und Juni 2019, Annette Hug

Kein Kanon? Die Kanon? Unser Kanon?

«Je verwirrender die Welt scheint, um so stärker wird dem Menschen die Sehnsucht nach einer Ordnung. Nach einer Einordnung. Nach anderen Menschen, die ihm Ideen, Anregung und Halt geben. Die ihm Leuchtturm sein können, in der immer wiederkehrenden, scheinbar schrecklichsten aller Zeiten», schreibt Sibylle Berg im Vorwort der Seite diekanon.org. Immer neue Listen und Register berühmter Männer haben uns nicht gerettet, stellt sie fest. Es müssen neue Listen her. Mit weiteren Autorinnen arbeitet sie an einem Kanon wichtiger Frauen in Literatur, Kunst, Musik und Wissenschaft.

«Der literarische Kanon. Ein Abgesang», hiess dagegen eine Aktion von Autorinnen am Frauenstreik vom 14. Juni 2019. Das Stehpult des Trobadora-Projekts, das auch eine rollende Kiste ist, spielte bei dieser Aktion eine Nebenrolle. Wir trugen eine Bestenliste aus der Zeitung «Le Monde» vor: die Männernamen im Kanon, die Frauennamen im Gleichklang. «Marguerite Duras» und «Nathalie Sarraute» ragten aus einem kakophonischen Meer von Männernamen auf. Um nicht in diesem Meer zu versinken, lasen wir danach kurze Passagen von Lieblingsautorinnen vor. Da wir kaum geprobt hatten und spontan ein Schluss für den Kanon gefunden werden musste, tauchte plötzlich ein Slogan der Klimademos auf, leicht abgewandelt: «Wem sin Kanon? Oise Kanon!»

Das passte aber nicht zum Titel, also skandierten wir: «Wem sin Kanon? Kein Kanon!»

«Oise Kanon» hätte gut zur Webseite diekanon.org gepasst. Die Gruppe, die sich an einem Stammtisch der Autorinnengruppe RAUF getroffen hatte, um die Aktion am Frauenstreik vorzubereiten, war aber folgender Meinung: Es ist weder realistisch noch wünschbar, dass sich die literarische Öffentlichkeit auf einen Korpus der relevantesten Werke einigt. Die wenigsten von uns sind nur in einer Sprache zu Hause. Wir lesen in mehreren Sprachen und können in keiner einzigen den vollen Überblick behalten. Mit empfindlichen Lücken ist immer zu rechnen. Ausserdem wackelt die klare Abgrenzung von U- und E-Literatur zu Recht. In der realen Welt der Bücher müssen wir uns immer wieder neu darüber verständigen, was relevant ist, was anregt, weiterführt oder produktiv irritiert. Fixe Listen geben eine Ordnung vor, die kaum mehr relevant ist.

Aktion «Der literarische Kanon. Ein Abgesang» am Frauenstreik vom 14. Juni 2019, Stadelhoferplatz Zürich.

An der Vorbereitungssitzung der Buchhändlerinnen der Gewerkschaft syndicom, die gemeinsam mit den Autorinnen am Frauenstreik protestierten – und bei Orell Füssli eine Protestpause einlegten –, wurde aber deutlich, dass durchaus Ordnungen existieren und zwar ganz materiell: Regale mit unterschiedlichen Beschriftungen. «Klassiker», «Unterhaltung», «Beststeller». Vielleicht sogar «Frauenliteratur». Die Buchhändlerinnen, die am Frauenstreik protestierten, würden gern anders einordnen als vorgegeben. Wenn es nach ihnen ginge, würden in den Regalen mehr Titel von Autorinnen stehen. In den Regalen und Auslagen der Buchhandlungen verwandelt sich die Sehnsucht nach Leuchttürmen, von der Sibylle Berg schreibt, in eine harte ökonomische Ordnung.

An die Verwirrung, der diese Sehnsucht entspringt, erinnerten dieses Jahr die Jurydiskussionen des Bachmannpreises. In Klagenfurt wurde deutlich, dass bei zentralen Fragen der Literaturkritik gemeinsame Begriffe und Referenzen fehlen. Zum Beispiel wenn es darum geht, zu benennen, was gute Literatur in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus kann oder soll. Als die Jury darüber sprach, konnte ich mich selbst bei einer inneren Kehrtwende beobachten. Hatte ich in der Vorbereitung des Frauenstreiks noch die Position «Kein Kanon!» unterstützt, wollte ich nun ausrufen: «Hinter Ilse Aichinger, Ruth Klüger und Paul Celan kann man doch nicht zurückgehen!»

Wohin diese Gedanken führen, ist mir noch nicht klar. Geht es darum, die Machtfrage offen zu stellen und zu sagen, dass «wir» – wer immer wir genau sind – den Kanon neu festlegen wollen? Sibylle Berg scheint dafür zu plädieren, wenn sie «die Kanon» wie folgt beschreibt: «Neue Namen mit Ideen und der Kompetenz, die vielleicht etwas zu einem freundlicheren Miteinander in der Welt beitragen können.» Oder gewinnt die Literatur – und die Freundlichkeit –, wenn sich die Listen generell verflüssigen und Autoritäten wackeln? War vielleicht der musikalische Zugang der beste? Der Kanon ist ein Genre unter vielen und es wird immer viele davon geben: Längere, kürzere, schönere, traurige, dumme und kluge. Schon wollte ich schreiben: Und jede singt dann ihren Lieblingskanon. Aber mindestens vier Stimmen müssen sich schon finden, sonst wird das nichts.

Stiftung Fondation

Das Ziel von alit – Verein Literaturstiftung besteht darin, eine Literaturstiftung Schweiz zu gründen, die – losgelöst vom Verein – einzelne Projekte rund um das literarische Schaffen trägt und prägt.